TEXTE

Der unfassbare Klang - Notationskonzepte heute

BESTIMMTE UNBESTIMMTHEIT

aus Der unfassbare Klang - Notationskonzepte heute
Ch. Herndler / F. Neuner (Hg.)
Klever-Verlag, Wien 2014


Jede Abbildung weist eine Diskrepanz zu ihrem Vorbild auf. Der Grund hierfür liegt in den Abbildungsverfahren. Die Mittel werden so lange sichtbar und Teil des Gefüges sein, bis sich eine Identität zwischen Vor- und Abbild einstellt. Ist diese Identität erreicht, löst sich auch der Unterschied zwischen Vor- und Abbild auf. Mit dieser Diskrepanz verschwindet allerdings auch eine Quelle schöpferischen Handelns.

Indem sich der Inhalt einer Mitteilung am Medium, in dem diese transportiert wird, reibt, bilden sich mitteilungsfremde Informationen. Sie scheinen mir im forschenden Prozess ein entscheidender Antrieb zu sein. Mit der Fähigkeit zur Schrift ist uns ein Mittel in die Hand gegeben, mit dem Informationen generiert werden, die allein diesem Medium entspringen und nicht der Informationsabsicht des Senders.

Wenn ich mit jemandem spreche, um ihn über einen Sachverhalt zu informieren, wird der dabei entstehende Klang eine Vielzahl mitteilungsunabhängiger Informationen erzeugen und mittransportieren. Auch wenn ich einen Klang notiere, werden durch die Notation eine Menge klangunabhängiger Informationen geschaffen. Eine elektronische Aufzeichnung eines Klangs würde in jedem Fall andere Zusatzinformationen beinhalten als eine verbale oder schriftliche Beschreibung desselben. Aber allein schon die Unterschiede zwischen den verschiedenen Schrift- oder Notationssystemen bringen diese Zusatzinformationen als Reibung an der Grundinformation ans Licht.

Von dieser Warte aus gesehen, bleibt Notation nicht ein Mittel zum Zweck, sondern kann selbst in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt werden. Es ist also nicht nur von Bedeutung, was durch Notation reproduziert werden kann, sondern auch was durch Notation produziert wird.

Angenommen, die Funktionalität der Notation bildet eine ihrer unabdingbaren Vorraussetzungen, so könnte man immer noch fragen: Wie ließe es sich anders notieren? Dieser Fragestellung nachgehend, sind im folgenden Beispiel 16 verschiedene graphische Varianten abgebildet, die immer nur ein und dieselbe formale Konstellation fixieren. Sie zeigen, wie das Auge – je nach Notation – die graphischen Sachverhalte unterschiedlich bemisst, wie allein durch die Wahl der visuellen Mittel Notation selbst auch Inhalt generiert.


Notationsvarianten


An einem Punkt angelangt, wo der Standard einheitlicher Notation sogar innerhalb der abendländischen Musiktradition grundsätzlich in Frage gestellt wurde – und sein Fortbestehen in der Musikpraxis in erster Linie pragmatische Gründe hat –, kann umso besser herausgearbeitet werden, wie sich Notation aus ihrer starren Funktion lösen und in ein dynamisches Werkzeug verwandeln lässt: Die Notation wird gemeinsam mit der Idee entwickelt – das Werkzeug bildet sich erst durch die Idee selbst. Form erzeugt Klang: Klang erzeugt Form.

Meine Notationsgraphiken sind für mich eine Art, diesem Gedanken nahe zu kommen. Sie entkoppeln die Notation vom Zweck der Reproduktion. Sie fixieren das, was sich nicht wiederholen lässt. (Die »starre Funktion der Reproduktion« manifestiert sich ohnehin in all den verfügbaren Reproduktions- und Dokumentationsmaschinen.)

Auch spontanes Agieren kann nicht dadurch reproduziert werden, dass man die gleiche Aktion wiederholt. Spontaneität entsteht vielmehr aus dem Bewusstsein, dass es auch anders sein könnte. Dieses Bewusstsein beinhaltet eine tiefgreifende Verbindung zum Umfeld, die durch bloße Reproduktion nicht gegeben wäre: Ob es sich nun um die Live-Übertragung eines Ballspiels handelt oder um eine musikalische Aufführung, der man live beiwohnt – solange das Ergebnis prinzipiell nicht fest steht, bleibt man gespannt und dadurch ­gebunden.

Es geht mir also nicht darum, das Zerplatzen eines Ballons oder die Vorstellung vom Zerplatzen eines Ballons oder die Handlung, die einen Ballon zum Platzen bringt, zu notieren, damit sich das entsprechende Ereignis wiederholen lässt, sondern darum, vom Platzen soweit zu abstrahieren, dass das Notat nicht nur zum Platzen eines Ballons führen, sondern auch ganz andere Ausprägungen annehmen kann, die mit dem Platzen zwar wesensverwandt sind, sich in ihrer konkreten Erscheinung aber wesentlich davon unterscheiden.

Es lassen sich verschiedenste Notationsmöglichkeiten erdenken, um einen solchen Schritt in die Abstraktion zu tun. Ein schwarzer Fleck auf dem Papier beispielsweise könnte sowohl zum Platzen eines Ballons als auch zu einem Trommelschlag oder zu einem Luftsprung führen. Ein wesentliches Unterscheidungskriterium für alle erdenklichen Notationsformen ließe sich daran fest machen, ob dieses »Es-könnte-auch-anders-sein« erst auf der Ebene des reproduzierenden Interpreten zum Tragen kommt oder schon auf der Ebene der Notation. Der schwarze Fleck jedenfalls zeigt sich als der eine, ganz bestimmte schwarze Fleck – er ist so und nicht anders.

Legt sich Unbestimmtheit, wie in diesem Fall, durch die assoziative Fähigkeit des Interpreten fest, sind den interpretatorischen Möglichkeiten so wenig Grenzen gesetzt, so viele Interpreten es gibt: Jedes Individuum könnte prinzipiell eine andere Lösung finden. Wird Unbestimmtheit aber in der Notation selbst festgeschrieben – ohne dabei das festgelegte interpretatorische Tun in der Notation auf eine einzige Handlung einzuschränken –, wird die Anzahl der interpretatorischen Möglichkeiten durch die Art der Notation und nicht auf der Ebene interpretierenden Assoziierens entschieden. Unbestimmtes zu notieren, bedeutet also vorerst etwas anderes, als Unbestimmtes zu provozieren.

Sucht man nach einer Form, das Unbestimmte zu notieren, wird dabei die Notation selbst fokussiert: Die Art der Festlegung bestimmt die Unbestimmtheit. Bestünde die Absicht lediglich darin, etwas Unbestimmtes zu provozieren, würde das Augenmerk weg von der Notation auf die Interpretation gerichtet sein.

So wie die Formel für den Kreisumfang (U = 2π r) noch nicht die Größe eines Kreises, sondern seine Verhältnisse bestimmt, lassen sich Notationen erdenken, die, gleich einer Formel, nicht konkrete Klänge, sondern vielmehr Klangverhältnisse bestimmen.

Obgleich z. B. die barocke Fugenform selbst keine Notation ist, so waren durch sie in rudimentärer Art harmonische, rhythmische und melodische Verhältnisse festgelegt. Durch eingehende Kenntnis eines solchen Regelwerks ließen sich konkrete klangliche Ausformungen entweder spontan (»improvisatorisch«) oder in schriftlich-überlegter Form (»kompositorisch«) erzeugen. Abgesehen davon, dass wir der Zeit allgemeiner Formkonvention entwachsen sind und die Formen, derer wir uns bedienen, nicht als selbstverständlich gegeben ansehen und hinterfragen, so ist auch die Form einer Fuge – im Gegensatz zur Kreisumfangsformel – nur innerhalb einer ganz bestimmten Musikkultur denkbar und praktizierbar.Lag beispielsweise die barocke Fugenform als allgemein nutzbares Vehikel offen, so verschwindet der Formenreichtum unserer Zeit in erster Linie hinter fixierten Klanggestaltungen. Dennoch bleiben Formen, wenn auch verschleiert, stets eine entscheidende Antriebskraft für künstlerisches Agieren und Gestalten. Form, ob sichtbar oder verborgen, ist in jedem Fall wesentlicher Träger von Bedeutungen.

Durch analytisches Hören erschließen sich solche Bedeutungsebenen und ermöglichen eine kritische Auseinandersetzung abseits von emotionaler Wahrnehmung und bloßem Konsumieren.

Ein analytisches Notieren wäre analog dazu das Offenlegen der Form in der Notation selbst. Für Notationen, die diesem Kriterium entsprechen, habe ich den Begriff »Notationsgraphik« geprägt; auch um eine kritische Abgrenzung zu Begriffen wie »musikalische Graphik«, »graphische Notation«, »graphische Partituren«, »Musikgraphik« etc. aufzuzeigen.

Wird mittels Notation die Sicht auf die Form freigelegt, rückt der Interpret in ein anderes Licht. Er erscheint dann nicht nur in der Funktion des Ausführenden, sondern zudem als entscheidender Interpret der Form selbst. Infolgedessen ist auch der Begriff des Komponisten und damit seine Funktion nicht mehr klar umrissen. Denn die Notationsgraphik zeigt die kompositorische Handlung als einen interpretatorischen Akt.

Ist nun das Etikett »Es-könnte-auch-anders-sein« am Komponisten fest gemacht, relativiert sich seine historisch gewachsene Autorität. Es ist nicht unbekannt, dass das Verschleiern der Form auch als bewährtes Mittel zum Autoritätserhalt benützt wird. Hier aber eröffnet sich der Blick auf eine Sache, die sich nicht durch ihr individuelles Bestimmtsein manifestiert, sondern die in ihrer Unbestimmtheit individuell durchdrungen werden muss, um in die Konkretion zu gelangen.

An Hand der beiden Notationsgraphiken supermixen und abgeschritten, der Kreis soll im Weiteren das ihnen eingeschriebene Verhältnis von Interpretation und Form, von Unbestimmtheit und Bestimmtheit beleuchtet werden.



Notationsvarianten


Christoph Herndler supermixen, für Streichinstrument(e) (2003)


In supermixen zeigt sich, wie Verwandlung, Variabilität und Unvorhersehbarkeit miteinander verschränkt sind: Motor der Variabilität sind darin zum einen die sich durch symmetrische Eigenschaften auszeichnenden geometrischen Zeichen und die damit einhergehende Drehbarkeit der Notationsgraphik, zum anderen die Möglichkeit verschiedener Leserichtungen und die damit verbundenen unterschiedlichen Ausgangspunkte: Die Graphik kann – ausgehend von einem beliebigen Eckpunkt – in jeder möglichen Drehung, in jeder Richtung und Reihung gelesen werden.
Nun muss sich der Interpret nicht nur für einen Anfangspunkt in der Graphik entscheiden, sondern auch für einen beliebigen Ausgangspunkt am Instrument: Er entscheidet z. B., an welcher Stelle der Bogen das Instrument zu berühren beginnt. Allein aus den sich daraus ergebenden unzähligen ­Anfangskonstellationen potenzieren sich die durch die Partitur erzeugbaren Klänge ins Unendliche.
Zu Beginn ist der Interpret frei und muss einen der vielen Wege wählen. Wird der »Stein« jedoch einmal ins Rollen gebracht, ist sein Weg entschieden und verläuft nach streng geordneten Kriterien. Der Klang selbst jedoch bleibt unbestimmt, denn trotz der präzisen Handlungsanweisungen durch die Aktionsschrift wird durch sie auf Orte am Streichinstrument verwiesen, die nicht wie in traditionellen Tabulaturen exakt fixiert, sondern durch die Zeichen nur relativ beschrieben sind (nach links, nach rechts, nach oben, nach unten etc.). In dieser Relativität liegt mitunter der Interpretationsspielraum der Ausführenden. Es sind also keine zu reproduzierenden klanglichen Resultate notiert, sondern Aktionen, die zu solchen führen. Somit muss der Interpret auf die entstehenden Klänge hören, um sich in angemessener Weise vom einen zum anderen Zeichen bewegen zu können. Die durch die Zeichen vorgeschriebenen Aktionen wechseln einander dabei nicht ab, sondern gehen ineinander über. Der Interpret findet z. B. einen möglichst nahtlosen Übergang von einer »Linksbewegung« in eine »Aufwärtsbewegung« oder von einem »leichten Bogendruck« zu einem »starken Bogendruck« etc.


supermixen - Legende


Des Weiteren besagt die Interpretationsvorschrift, dass jeder dieser Übergänge äußerst langsam und unmerklich vor sich gehen muss; das Maß dafür bildet das unmittelbar entstehende akustische Resultat: Der Interpret weiß durch die Zeichen, was genau zu tun ist, justiert dennoch über sein Ohr Stärke, Dauer und Position seiner Bewegungen, um den Fluss der unmerklichen Klangverwandlung zu gewährleisten. Und in eben diesen klanglichen Zwischenräumen entsteht das Unvorhersehbare als spontane Qualität, ohne dabei Gefahr zu laufen, ins Beliebige zu kippen. So wie die Bahn des ins Rollen gebrachten Steins durch die Unebenheiten des Bodens bestimmt ist, beeinflusst die Oberfläche des analogen Instruments sowie die Beschaffenheit des dazugehörenden Bogens die klangliche Bahn der Musik. Indirekt fixiert supermixen mittels weniger Zeichen ein Vielfaches an klanglichen Konstellationen. Es wäre zu wenig, die Partitur nur einmal zu spielen. Der Versuch, alle Wege zu beschreiten, würde zu weit führen. Die Partitur muss aber dennoch erkundet werden, ob spielend oder denkend. Sie muss mehr als einmal gespielt werden, denn allein in der unterscheidenden Spannung zwischen 2 möglichen Wegen oder auch im klanglichen Unterschied eines 2 mal beschrittenen Wegs entfaltet sich die Qualität von supermixen. Dadurch, dass der Klang im Übergang, also am Weg von einem zum benachbarten Zeichen entsteht, verändert sich bei geänderter Leserichtung auch der vom jeweiligen Zeichen ausgehende Klang. Einem Zeichen können so 7, 10 oder 8 verschiedene Klangbildungen entspringen, je nachdem, ob es an einem Eckpunkt, an einer Seite oder im Inneren der quadratisch angeordneten Zeichen steht. Wird die Notationsgraphik auf nur eine ihrer 4 Seiten gestellt und in 16 möglichen Leserichtungen gelesen, so sind durch die 16 Zeichen der Notationsgraphik bereits (4 × 7) + (8 × 10) + (4 × 8) also insgesamt 140 verschiedene klangerzeugende Prozesse beschrieben. Dreht man dann die selbe Graphik auf alle weiteren 3 Seiten, ergibt sich durch die symmetriebedingte Bedeutungsänderung einzelner graphischer Zeichen und der mit ihr einhergehenden Veränderung der Zeichennachbarschaften zusätzlich ein Vielfaches an weiteren Klangprozessen.


supermixen - Leserichtungen


Variabilität manifestiert sich hier weniger im Interpretationsfreiraum des Musikers als vielmehr in der Partitur selbst: Veränderung der Leserichtung bedeutet Veränderung des Wegs, und Drehung der Partitur bedeutet Veränderung des Geländes. Der Interpret selbst beeinflusst den klanglichen Verlauf in erster Linie durch die Wahl einer konkreten Anfangsbedingung (Instrument, Bogenposition, Bogendruck, Fingerposition, Fingerdruck etc.) und durch den gewonnenen Spielraum relativer Größen (stärker, schwächer, nach links, nach rechts etc.). Ausgehend von der Vorstellung eines sich ständig verändernden Klangs entstand im Versuch, einen solchen zu notieren, durch Abstraktion eine Partitur, die nicht Klänge fixiert, sondern sie durch Mischvorgänge generiert.




Auch bei der Notationsgraphik abgeschritten, der Kreis ging es um den Versuch, einen Übergang zu notieren. Im Gegensatz zu supermixen, wo nicht der Übergang als solcher notiert ist, sondern dessen Eckpunkte, die der Interpret möglichst stufenlos zu verbinden hat, wird in abgeschritten, der Kreis der Übergang selbst notiert.



abgeschritten, der kreis

Christoph Herndler abgeschritten, der Kreis, variable Besetzung (2009)


Da nun Ausgangspunkt und Endpunkt klanglich nicht bestimmt sind, muss auch die Notation des Übergangs entsprechend abstrakt sein, um als Verbindung zweier beliebiger Orte funktionieren zu können. Ging es in supermixen um analoge Prozesse, also um eine Form des Übergangs, die jeden Zwischenraum stufenlos abzutasten versucht, so wird in abgeschritten, der Kreis der Prozess einer Verwandlung mittels einer zeit- und wertdiskreten Darstellung generiert. Dabei macht sich die Notation Kriterien der »Häufigkeit« zu Nutze, um den Eindruck eines Übergangs hervorzurufen bzw. entstehen zu lassen: Wenn etwas zunächst häufig auftritt und dann immer seltener, während etwas anderes vorerst selten und dann immer öfter auftaucht, bildet sich in unserer Wahrnehmung der Eindruck eines allmählichen Wechsels.

In der Notationsgraphik abgeschritten, der Kreis werden die zwei Eckpunkte des Übergangs, dargestellt durch zwei verschiedene Zeichen ( , ), auf vier Quadrate aus je 25 Zeichen verteilt. Dabei verhält sich die Häufigkeit des einen zum anderen Zeichen im ersten Quadrat wie 4 : 1, im zweiten wie 3 : 2, im dritten wie 2 : 3 und im vierten wie 1 : 4. Das im ersten Quadrat noch selten auftauchende Zeichen nimmt im Verlauf der vier Quadrate überhand. Um den Komplexitätsgrad dieses Schemas anzuheben, ist ein drittes Zeichen (ein Pfeil, der in eine dritte Richtung zeigt) eingefügt; dieses nimmt auch den Verlauf vorweg, der beim Drehen der Notationsgraphik in Gang gesetzt wird.

Die Abstraktheit der Übergangsdarstellung ist nun zum einen über das Prinzip der »Häufigkeit« und zum anderen durch die Zeichenwahl selbst gegeben. Obschon bei diesem Abstraktionsprozess noch eine bestimmte klangliche Vorstellung mitschwingt, so eröffnet sich erst durch diesen der Reichtum alternativer klanglicher Möglichkeiten. Erst durch die Notation werden sie sichtbar, aber auch handhabbar. Die gewählte Dreiecksform besitzt darüber hinaus die Eigenschaft, dass sie um jeweils 90° gedreht zum Bedeutungsträger vier verschiedener Inhalte werden kann (seien es Klänge, Bilder oder Bewegungen). Die oft viel Raum (viele Seiten) einnehmende zeitliche wie klangliche Darstellung von Musik ist hier in der Drehung und der damit verbundenen Vieldeutigkeit des Dreiecks komprimiert. Die Dekompression passiert während der Aufführung als geistige Bewegung im Kopf auf der Grundlage einer semantischen Zuordnung.



abgeschritten, der kreis

Christoph Herndler abgeschritten, der Kreis, dargestellt als Graustufenbild: Wird die in 4 Quadraten angeordnete Pfeilgruppe der Partitur abgeschritten, der Kreis jeweils um 90° gedreht, ergeben sich die hier in Graustufen abgebildeten 4 Zeilen, wobei jeder Pfeilrichtung ein bestimmter Grauwert zugeordnet wurde. Diese dekodierte Graphik kann wiederum selbst zur Partitur werden, so sie auch neue formale Verhältnisse sichtbar macht.




Neben den vielen musikalischen Realisationen, die den vier Pfeilrichtungen klangliches Material zuordnen, war es naheliegend, die vier Pfeilrichtungen mit vier Bewegungsrichtungen im Raum ins Verhältnis zu setzen: So sollte einem Pfeil, der nach oben zeigt, ein Schritt nach vorne, einem Pfeil nach links ein Schritt nach links, einem Pfeil nach rechts ein Schritt nach rechts und einem Pfeil, der nach unten zeigt, ein Schritt nach hinten zugeordnet werden. Eine naheliegende Zeichendeutung, da ja hier eine graphische Qualität des Pfeils als richtungsweisende Einheit genutzt wird. Ich war gespannt, an welchen Ort mich die Partitur führen, welchen Weg ich durch sie beschreiten würde.



abgeschritten, der kreis

Werden die Pfeile der Notationsgraphik abgeschritten, der Kreis als richtungsweisende Zeichen ­gedeutet, entsteht ein kreisförmiger Bewegungsverlauf.




Mein erster Versuch im Haus wurde bald durch die vier Wände des Zimmers abgebrochen, auch der Innenhof bot nicht genügend Raum; erst im freien Gelände konnte ich die Notationsgraphik mit all ihren vier Drehungen ausführen. Ihr Weg führte mich in einer Kreisbewegung zurück zum Ausgangspunkt. In einer nachträglichen Analyse der Partitur ist mir dann klar geworden, dass mich die vorliegende graphische Abstraktion eines Übergangs zum Kreis und genauer betrachtet zur Spirale als Urbild ständiger Verwandlung führen musste. Denn beginnt man einen Kreis von oben her nach rechts hin abzuschreiten, müssen, um das erste Kreisviertel zu erhalten, die Schritte nach rechts weniger werden, währen sich die Schritte nach hinten vermehren. Die drei ausständigen Kreisviertel entstehen durch die folgenden 90°-Drehungen der Graphik. Angeleitet durch die Partitur ließ sich also ein Kreis beschreiten, der je nach Schrittgröße mehrere hundert Meter Umfang haben konnte. Mit dieser Erfahrung zurück im Haus, versuchte ich nochmals eine vollständige Aufführung der Notationsgraphik im Zimmer, indem ich meine Schrittgröße extrem reduzierte. Mir war, als müsste ich mein Schreiten nur noch denken, so minimal bewegte ich meine Füße, um im Rahmen der vier Wände bleiben zu können.


Viele meiner Notationsgraphiken funktionieren als medienübergreifende Schnittstellen. Die interpretatorische Entscheidung, die Zeichen statt mit musikalischem Material mit Bewegungsmaterial zu belegen, führt in die Nähe des Tanzes. In der DVD-Produktion subjekt / objekt, eine akustische und visuelle Weiterverarbeitung der gleichnamigen Aufführung im Brucknerhaus Linz im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres 2009, verwendet Markus Scherer, der auch für das Setting der ursprünglichen Aufführung verantwortlich zeichnet, die hier beschriebene und der Aufführung zu Grunde liegende Notationsgraphik, um die dokumentarischen Aufnahmen, aus der Sicht fünf verschiedener Kamerapositionen, mit Hilfe der Notationsgraphik zu organisieren. Dabei steuern die vier Pfeilrichtungen der Notation den Prozentanteil der Transparenz jeder einzelnen Videospur. Ein Geflecht aus Bildüberlagerungen, in dem sich der Betrachter frei bewegen kann, ohne dabei von der naturgemäßen Linearität des Ablaufs dominiert zu werden. Dieses »freie Sehen« entspricht jenem »freien Hören«, das ich auch in meiner Musik forcieren will.

Eine Notationsgraphik, die auf einen Blick (auf einem Blatt) erfasst werden kann, verweist mehr auf das freie Umherschweifen der Blicks (des Ohrs) als jene musik-schriftlichen Aufzeichnungen, die durch Umblättern immer auch etwas von ihrer Linearität zeigen (von einem bestimmten Anfang und einem bestimmten Ende erzählen).



subjekt/objekt

Christoph Herndler / Markus Scherer: subjekt / objekt (Videostill) (2009/11)


abgeschritten, der Kreis zeigt sich als Ganzes, macht auf einen Blick den ganzen Prozess transparent, will keine geplanten Überraschungen, obgleich sich Überraschendes ereignen kann.
Beginne ich eine musikalische Idee aufzuzeichnen, versuche ich, sie von ihrem Ende her zu denken. So müsste idealerweise jeder mögliche Anfang das Ganze bereits in sich tragen – und zwar an der Schnittstelle zwischen Material und Form.

Das Abbild der Musik war historisch zunehmend durch Bemühungen geprägt, nicht nur klangliche Vorstellung aufzuzeichnen, sondern das klangliche Geschehen vor allem reproduzierbar zu machen. Die Notation, die sich daraus ent­wickelte und bis heute die Tendenz westlicher Musikkultur bestimmt, war somit weniger interessiert an der Aufzeichnung interpretatorischer Freiräume als an klanglicher Kontrolle. Und so haben die über Jahrhunderte praktizierten Versuche, Bilder, Klänge, Bewegung etc. aufzuzeichnen und zu dokumentieren in unserem Jahrhundert (vor allem in den letzten 20 Jahren) durch die digitalen Technologien, einen Höhepunkt erreicht. Der Masse an »aufgenommenen« Bildern und Tönen nicht weiteres »dokumentarisches« Material hinzuzufügen, ist für mich mit ein Grund, klangliche Abläufe zu abstrahieren (sie von ihrer klingenden Oberfläche getrennt zu denken), um sie dann in der komprimierten Form von Notationsgraphiken zu verallgemeinern.
So gesehen zeigt sich die Musik auf einen Blick: viele mögliche klangliche Wege, die sich im Zuge der Aufführung konkretisieren und sich in der Zeit entfalten. In den Notationsgraphiken wird also nicht die zeitliche Ausdehnung gespeichert, sondern jene Prinzipien, die sie bedingen.
Die Angewohnheit des Musikbetriebs, Musik von der Klangaufzeichnung her zu denken und zu beurteilen, wird aber nur schwer zu überwinden sein. Unsere »Copy & Paste-Gesellschaft« hat sich zwar durch das in Fluss befindliche klang­liche Material und dessen ständige Verfügbarkeit vom ursprünglichen Werkbegriff etwas entfernt, nichts allerdings an der Vorstellung geändert, dass Musik reproduzierbarer Klang und somit kalkulierbare Ware sei. Das »Nicht-Kalkulierbare«, das Unvorhersehbare, das Spontane, ja sogar das »Nicht-Reproduzierbare« sind aber meiner Ansicht nach Qualitäten, die das »Musikalische« geradezu bedingen, unabhängig von der Art oder der Gewichtung dieser Kriterien. In diesem Sinn fixieren supermixen wie abgeschritten, der Kreis etwas, das sich nicht reproduzieren lässt – es muss vielmehr immer wieder von neuem produziert werden.


In meiner kompositorischen Arbeit geht es mir stets auch darum, Wege zu beschreiten, und zwar solche, die man noch nicht kennt und die es erfordern, sich willentlich in ungesicherte Situationen zu bringen.
So sehr Kunst immer auch ein Bändigen von Gegebenheiten bedeutet, wecken jene künstlerischen Methoden mein Interesse, die trotz dieser notwendigen Kontrolle auch den ungesicherten Raum mitbedenken und ihn als solchen bewahren. Zwar ist die Wichtigkeit des Handwerks und das mit ihm einhergehende Virtuosentum – auf produzierender wie reproduzierender Seite – für den Musikbetrieb scheinbar unbestritten, es wird aber künstlerische Fragestellungen, die sich in erster Linie auf das Ungesicherte, Unetablierte, Unvorhersehbare beziehen, nicht ersetzen können.

ÜBERGANG UND SCHNITT

ÜBERGANG UND SCHNITT

Vortrag im Rahmen von
Internationales, interdisziplinäres Symposion in Innsbruck 2019


Musik abseits ihrer Klanglichkeit

Jedes hergestellte Instrument manifestiert eine Ideologie, ein System von Normen, eine Weltanschauung. Durch Institutionen und die dazugehörigen Bauten wird sie zementiert. Durch das instrumentale Training verkörpert sie sich im Menschen.

Diese bewährte Konstellation dient als Multiplikator, nach ihr richtet sich jedes weitere Training, bis es durch den Wiederstand einer neuen Idee gestört wird. Die Übung, das wiederholte Training, die verkörperte Fähigkeit bestimmt auch den Musikbetrieb, die Musik. Ob das nun die virtuosen Bewegungen von Fingern, Händen und Füßen eines Organisten sind oder die flinken Daumen am Display eines Smartphones, ist gleichgültig. Die Orgel unterscheidet sich zwar in Bauart und Materialität von einem Computer, beide aber sind Instrumente, denen ein Programm, ein Bauplan zugrunde liegt. Und dieser Plan widerspiegelt eine Idee wie auch eine Ideologie.

Zum einen gilt es, den Corpus aller überlieferten Musik zu bewahren, und zum andern, diesem Corpus Neues, Innovatives, der jeweiligen Zeit Entsprechendes hinzuzufügen.
Nun kann man sehen, wie viel Energie dafür aufgebracht wird, Bewährtes zu bewahren. Das zeigt sich am Instrumentenbau, aber auch an der notwendigen Energie, um ein Instrument zu erlernen. Es wäre einer instrumentalen Ausbildung nur hinderlich, an den Normen, die durch das In­strument selbst vermittelt werden, zu zweifeln.
Aber die Infragestellung steht nun einmal jeder Innovation voran. Daher ist für Schaffende dieser Zweifel notwendig. Als Komponist werde ich durch die Arbeit mit Musikern, die ja durch ihre instrumentalen Fähigkeiten diese Normen im wörtlichen Sinn verkörpern, genau mit solchen Infragestellungen konfrontiert:

Warum sind die Tasten schwarz-weiß?
Warum hat die Geige vier Seiten?
Warum stimmen wir ein Instrument?
Warum normieren wir die Zeit?
Warum lesen wir von links nach rechts?
Warum schreiben wir Musik auf? –
Warum nehmen wir sie auf, warum konservieren, reproduzieren wir sie?

Alle diese Fragen, so simpel sie auch gestellt sind, machen deutlich, dass alles Erfindung ist, dass alles auch anders sein könnte. So werden immer wieder Gebäude und nicht nur Gedankengebäude eingerissen, um auf Ihnen, wie auf fruchtbarem Boden, Neues zu bauen; aber gleichzeitig bewahren wir sie als Denkmäler, um uns zu orientieren, um uns am Gewohnten festzuhalten, um uns abzusichern – obgleich es einleuchten müsste, dass die einzige Sicherheit der Fortgang ist.

Und gerade in der Musik lässt sich das Hin-und-her-gerissen-Sein zwischen Stehenbleiben-Wollen und Weitergehen-Müssen am eindringlichsten aufspüren. Der sich mitunter in Orchester und Konzerthäusern manifestierende museale Anspruch reibt sich unaufhörlich am aufhorchend-forschenden und zweifelnden Geist der Gegenwart. Man könnte nun glauben, wenn diese Reibung noch spürbar ist, sei alles in Ordnung – aber was passiert, wenn die museale Musik einerseits und die Musik-Erfindung andererseits sich so sehr voneinander emanzipieren, in solche Unabhängigkeiten driften, dass keine Reibung mehr spürbar ist? Könnte dieser Zustand bereits eingetreten sein? Der Zustand, dass die Wirkung des Alten auf das Neue und umgekehrt keine Wirkung mehr zeigen, weil beide, Altes wie Neues, in unserer Musikpraxis voneinander weitgehend unabhängig geworden sind?

Für ein Symposion, das einem historischen Ereignis geschuldet ist und dennoch die Reibung am Gegenwärtigen sucht, sind diese Überlegungen ein begrüßenswerter Ansatz.

Es ist gar nicht so leicht, das Gegenwärtige aufzuspüren. Es ist ja auch nicht einfach, Musik am Begriff „Musik“ festzumachen. Durch die Frage, „ob denn das Musik sei“, hat schon John Cage mit seiner Antwort, „Sie müssen es ja nicht Musik nennen“, den Musik-Begriff in einen damals völlig neuen Kontext gestellt. Und so wie auch der Begriff „Musik unserer Zeit“ heutzutage jede historische, jede ethnische Musikform umfasst, definiert er sich viel mehr durch Verfügbarkeit und Gebrauch als durch das ihm bislang übergestülpte lineare geschichtliche Konstrukt. Das einst Vergangene als das damals Museale und das einst Gegenwärtige als das damals Neue fristen, wie mir scheint, ein gleichzeitiges Leben in zwei parallelen Universen.
Potentiell sind alle Genres aus allen Regionen und allen Zeiten jederzeit verfügbar geworden. Die heutige Vielfalt praktizierter Musik ist die „Musik unserer Zeit“.
In dieser erlebbaren Entgrenzung des Musik-Begriffs liegt eine Chance. Sie führt mir erneut vor Augen, dass Musik über die Phänomenologie des Klangs hinaus gedacht werden kann. Denn wie jeder Begriff, ist auch dieser eine Konvention. So können wir die Antwort, die uns durch diesen Begriff selbst suggeriert wird, auch hinterfragen.

Meine kompositorischen Arbeiten sind Fragestellungen.
Meine Notationen sind Instrumente.
Ich produziere keine Werke, sondern Werkzeuge.
Musik abseits ihre Klanglichkeit zu denken, ist für mich eine treibende Kraft.



Idee und Notat

Nicht nur im Instrument zeigt sich Ideologie, sondern auch in der Notation.

Der Pragmatismus oder die Funktionalität der standardisierten Notation hat aus ihr ein sehr schwerfälliges, aber auch stabiles System gemacht. Zeichen, die zu entschlüsseln sind, müssen in langjähriger Arbeit erlernt werden und die an sie gebundenen Muskelreflexe lassen sich dann nur schwer wieder abgewöhnen: Das Gewohnte ist träge.

Allein die Tatsache, dass es eine direkte Abhängigkeit zwischen Idee und Schrift gibt, zeigt, dass sich auch Notation ständig ändern muss. Mit Blick auf die Geschichte lässt sich das leicht überprüfen. Neue Instrumente, neue Ideen, neue Ansprüche und Sichtweisen generieren neue Formen der Notation.

Wenn man sich (in der Musik) die Notation periodisch als einen unbewegten Beweger vorstellt, dann ist es auch möglich sie als bewegten Beweger zu denken: nämlich dann, wenn jede Idee in der ihr entsprechenden Notation formuliert wird.

Die instrumental bedingte zeitliche und geographische Aufweichung der Grenzen muss sich auch entsprechend in der Notation zeigen.
Die Rolle des Internets auf das geopolitische Geschehen (auf die Aufweichung der Grenzen) der letzten Jahre ist unübersehbar. Die Rolle des Users, der gewohnt ist, mit jeder App auch ein Set neuer Zeichen zu erlernen, zeigt, wie schnell wir uns auf neue Systeme einstellen können. Diese Tatsache erreicht nur sehr schwerfällig den etablierten Musikbetrieb.
Für den Anspruch, dass jede Idee ihre eigene Notation braucht, sie also zu einem bewegten Beweger wird, kann diese technologisch forcierte Fähigkeit von Nutzen sein.

Wenn ich in meinen Notationen zumeist keine Klänge fixiere, sondern lediglich deren formale Verhältnisse, entsteht durch sie, wie von selbst, ein Übergang, eine Brücke hin auch zu anderen Künsten, zu anderen Medien: Künstliche Grenzen werden fließend.
Wenn in meinen Notationen keine bestimmten Instrumente fixiert sind, dann ist das (aus kommerzieller Sicht) zwar oft ein Nachteil (denn der Suchbegriff lautet eher „für Orgel und Trompete“ als „für variable Besetzung“), aber hat man einmal das Potenzial dieser Variabilität erfasst, könnte gerade daraus ein Vorteil entstehen.




NOTATIONEN

variations sérieuses variation

Es ist nicht zufällig, dass eine meiner sehr häufig gespielten Kompositionen „variations sérieuses variation, für Orgel oder Klavier(e)“ auch Noten zeigt. Durch sie kann sich der Geübte schnell ein klangliches Bild machen. Wird er allerdings mit ungewohnten Zeichen konfrontiert, kommt er aber in einen Konflikt, wenn es schnell gehen muss.




ÜBERGANG UND SCHNITT

Partiturausschnitt: „variations sérieuses variation, für Orgel oder Klavier(e)“ 2009



„variations sérieuses variation“ zeigt zwar Noten, deren Bedeutung wird aber verändert: Der runde Notenkopf im 5-linigen System verweist wie üblich auf die Tonhöhe, aber die sichtbaren Töne entsprechen nicht mehr dem tatsächlich Erklingenden.
Alle weißen Noten werden im Hintereinander angeschlagen und so lange gehalten, bis sie auf eine entsprechende schwarze Note treffen. Dabei werden die vertikal übereinanderstehenden Noten in beliebiger Reihenfolge entweder aus- oder eingeblendet.
Nicht das Ergebnis wird fixiert, sondern Aktionen, die zu einem solchen führen.
Die Noten sind nicht mehr Geländer, an denen sich der Spieler zu jedem Zeitpunkt anhalten kann, auch wenn er den Überblick verloren hat. Vielmehr muss hier der Interpret in der Form bleiben, damit sein Weiterkommen garantiert ist.



a rose is a rose is ...

In der Notationsgrafik „a rose is a rose is ...“ wird die Anforderung, in der Form zu bleiben, auf die Spitze getrieben.

Die Notationsgrafik selbst ist die Schrift, aus der gelesen wird. Die Schrift ist Form und Tabulatur zugleich.
Die Analyse ist obsolet, denn die Form zeigt sich unmittelbar im Bild der Notation.




a rose is a rose is ...

Notationsgrafik (Ursprungsform) zu: „a rose is a rose is ...“ (2010)


Während hier 16 Zeichen quadratisch angeordnet sind, bildet das Quadrat selbst den Ausgangspunkt der formalen Idee. Dieses zeigt sich zum einen als Ganzes und zum anderen als Fragment. Dabei sind die 4 Seiten des Quadrats – also die Horizontale unten, die Horizontale oben, die vertikale links und die Vertikale rechts – die 4 Bedeutungsträger dieser Notationsgrafik. Ihnen können 4 Klänge oder Aktionen zugeordnet werden.

Liest man nun diese 16 Zeichen zeilenweise von links nach rechts, ist an der Zeichenanordnung zu bemerken, wie die Häufigkeit horizontaler Linien abnimmt, während die Häufigkeit vertikaler Linien zunimmt. Somit werden jene der Horizontalen zugeordneten Aktionen allmählich weniger und jene durch die Vertikale definierten mehr – hier erfasst die Notationsgrafik einen Übergang. Wird sie hingegen um 90° gedreht und auf eine andere ihrer 4 Seiten gestellt, erfasst sie andere formale und somit auch andere akustische Verhältnisse.

Diese einfache Form, gleich einem Fraktal auf sich selbst angewandt, steigert ihre Komplexität. So sind an den farbigen Feldern, die der Form der ursprünglichen Notationsgrafik entsprechen, abermals die fortlaufenden Zeichen derselben Ursprungsform angebracht.




a rose is a rose is ...

Notationsgrafik „a rose is a rose is ...“ (2017)



Übergang und Schnitt

Den Bogen zum Beginn möchte ich abschließend mit der Notationsgrafik „Übergang und Schnitt“ aufspannen und zeigen, wie an der Schnittstelle der Form die Grenzen zu fließen beginnen.

Den Ausgangspunkt bildet die Darstellung eines 4-teiligen Klangs – hier gezeigt in 4 übereinanderliegenden Linien – in dessen Verlauf sich immer nur ein Klanganteil verändert, während die drei restlichen Teile gleich bleiben.

Um, diesem Kriterium entsprechend, alle 24 kombinatorischen Möglichkeiten, 4 Linien übereinander zu schichten, zu erhalten, muss eine ganz bestimmte Reihenfolge gefunden werden.



ÜBERGANG UND SCHNITT

Notationsgrafik „Übergang und Schnitt“ (2019) und kombinatorisches Schema aus 1, 2, 3, 4.



Der ursprüngliche musikalisch-klangliche Anreiz einer solchen Formfindung wird durch die Notation zu einem visuellen Anreiz. So kann die Hervorhebung der Linienverläufe mittels Linienstärke im 3-dimensionalen Raum auch durch Tiefendarstellung ersetzt werden.



ÜBERGANG UND SCHNITT

Notationsgrafik „Übergang und Schnitt“ (2019) – extrudierte Variante / linear



Wird nun das daraus entstandene 3-dimensionale Objekt – mit Anfang und Ende – zu einem Kreis geschlossen, erhält man ein architektonisches Gebilde, in dem sich auch die anfänglichen und für mich essentiellen musikalisch-klanglichen Kriterien wieder finden lassen:

die Ambivalenz zwischen Offen und Geschlossen, zwischen Innen und Außen, zwischen Weite und Enge, die Ambivalenz zwischen Hierarchie (also dem Darüber- und Darunter-Liegenden) und Heterarchie (also die in der Kombinatorik liegende Gleichwertigkeit der einzelnen Teile) und die in der Veränderung selbst liegende Ambivalenz von Übergang und Schnitt.



ÜBERGANG UND SCHNITT

Notationsgrafik „Übergang und Schnitt“ (2019) – extrudierte Variante / zirkular

WARUM ÜBER NOTATION REDEN

WARUM ÜBER NOTATION REDEN?

Vortrag im Rahmen des Symposions
Notation: Imagination und Übersetzung am IFK in Wien, 2018


Notationskonzepte

Warum reden wir über Notation? Ist es doch ein so spezifisches Thema, dass es nur in Fachkreisen von Interesse sein kann – den Musikhörern dürfte es ziemlich egal sein, welche Mittel zur Produktion oder Reproduktion von Musik eingesetzt wurden. Der Benutzer eines Sessels oder eines Computers muss nicht wissen, wie dieser gemacht ist – bequem oder funktionell muss er sein. Das Nötige kommuniziert sich über den Gebrauch, sei es über das Ohr, über das Tasten oder durch welche Sinne auch immer. Ich muss also kein Winzer sein, um über Wein reden zu können, kein Komponist, um Musik zu beurteilen. Durch die sinnlich erfahrbare Oberfläche kommunizieren sich immer auch die darunter liegenden Schichten. Das Eine spricht gleichzeitig vom Anderen. So ist Kunst, aber auch Musik eine Art Metasprache; eine Form der Kommunikation, die mitunter auf eine Welt oder Weltsicht verweist, aus der sie kommt: aus welcher Geschichte, aus welchem Denken, aus welcher Erfahrung, aus welchem Handeln, aus welchen Utopien.

Auch wenn sich nun von einem akustischen oder musikalischen Ereignis nicht unbedingt auf eine bestimmte Form der Notation schließen lässt, lassen sich über das rein klangliche Ereignis rudimentäre Rückschlüsse auf Aspekte der Produktionsmittel ziehen, also auf Aspekte jener hindurchleuchtenden und hier nun zu durchleuchtenden Welt.
Fragt man etwa danach, wer oder was den Klang erzeugt, so lässt sich eine dem Klang zugrunde liegende Welt erschließen; und Fragen, die sich dabei auftun, sind immer auch Fragen an die Welt. Wenn also die Funktion der Kunst auf die Idee des Erkennens zielt, dann sind die durch sie aufgeworfenen Fragen die treibende Kraft auf diesem Weg.

Am Beginn meines kompositorischen Weges standen Überlegungen wie:
Warum notiere ich A, wenn es statt A auch B sein könnte?
oder
Warum fixiere ich, was mir heute gefällt, mir morgen aber missfällt?
Also Fragen der Variabilität und Fragen des Geschmacks.
Angesichts der vielen verfügbaren Geräte zur Dokumentation schien es mir auch redundant, „die Notation“ dafür einzusetzen.
Und schließlich: Warum nicht überhaupt die von Hand kommende Notation über Bord werfen, war doch im Zeitalter der Digitalisierung der Binärcode das universelle Mittel, der Computer gleichermaßen als Instrument wie auch als Interpret für jeden Bereich verfügbar geworden.
Das kompositorische Konzept, das kompositorische Programm an den Computer zu richten, durch den Computer zu realisieren, kann reibungsloser und kompromissloser passieren, als es in der Umsetzung durch Menschen möglich ist. Der Mensch, der Musiker bietet grundsätzlich eine andere Reibungsfläche als die Maschine. Und genau in diesem Spannungsfeld bewegt sich meine Notation: Es sind Programme, die sich an Menschen richten.
Auch die Form der Fuge oder die seriellen Techniken folgen einem Programm, aber diese Programme richten sich an eine Notation – sie werden vom Komponisten in eine vertraute (meist standardisierte) Notenschrift übersetzt, die dann erst vom Interpreten klanglich realisiert werden können.

In meinen meist geometrisch geformten Notationsgraphiken zeigt sich, im Gegensatz dazu das Programm ganz unmittelbar.



WEICHEN (20011) #1


Notationsgrafik: WEICHEN (2011) #1, variable Besetzung



Mit diesen Programmen versuche ich eine bestimmte Wirklichkeit zu erfassen – sie zeigt sich mir als Ganzes. Um ein Bild davon zu geben, finde ich eine Form, die sowohl als Bild wie auch als Code funktioniert.

Für den Menschen ist das Erfassen von Bildern eine angeborene Fähigkeit. Das Übersetzen von Codes muss allerdings erlernt werden und stößt dort an Grenzen, wo z.B. die Geschwindigkeit des Übersetzungsprozesses eine Rolle zu spielen beginnt. Die Form eines Codes, die sich an den Menschen richtet, muss also eine andere sein, als jene, die sich an Computer richtet.

An dieser Reibungsfläche müssen die Zeichen der Notation geformt werden, und zwar so, dass der Blick aufs Ganze nicht aus dem Auge fällt. Denn dann ist auch garantiert, dass der Interpret als Wissender und im Sinne der Kunst als Erkennender im Spiel bleiben kann.

Notationen die aus reiner Pragmatik so sind, wie sie sind, finden sich zur Genüge: Der Betrieb muss funktionieren, das Orchester muss funktionieren, schnell muss es gehen, Zeit ist Geld, Musik eine Ware, Selbstverwirklichung und Erfolg das ultimative Ziel, der Blick aufs Ganze nur hinderlich.

Auch Notationen, die diese durch Pragmatismus bedingten Standards beiseite lassen, sind nicht selten, sie entstehen dort, wo die Gruppen klein und überschaubar sind – in „Bands“ oder als „persönliche Gedächtnisstützen“ – also Hybrid-Schriften, die nicht weiter nach außen dringen, sondern nur von einem selbst verstanden werden müssen.

Doch es scheint mir, dass die Qualität von Notation oder Schrift im Allgemeinen gerade darin liegt, dass sie nach Außen dringen muss! Sie muss gelesen werden. Und wenn man sie nicht auf Anhieb lesen kann, dann muss man sie zumindest entschlüsseln.

An dieser „Schlüsselstelle“ können Missverständnisse entstehen; aber gerade diese erachte ich als produktiv, da sie die aktive und kreative Auseinandersetzung mit den Zeichen voraussetzen – also einen Interpreten in seiner Verantwortung mit ins Spiel bringen.
Hier steht eine kreative Rekonstruktion im Gegensatz zu einer standardisierten Reproduktion.

Notation oder die Notationsgraphik wird zum Werkzeug!

Dieser kreative oder interpretatorische Akt beim Entschlüsseln findet sich in Analogie dazu auch beim Verschlüsseln oder Entwickeln der Zeichen: Komponist_innen sehen sich mit den Zeichen konfrontiert, die sie zur Speicherung der Idee heranziehen oder ad hoc neu erfinden. Nun leisten diese Zeichen, gemessen an der Vorstellung, einen Widerstand – begründet im Transformationsprozess und in der Eigendynamik der Zeichen selbst. Hier ein klangliches Phänomen und da ein graphisch- visuelles Phänomen.
Bewegt man sich allein in der Vorstellung des Klangs, verlaufen die Grenzlinien des Denkens anders als im Vorstellungsraum der Zeichen. Daher stellt sich mir folgende Frage: Ist das Denken im „Klangraum“ bereits durch den „Zeichenraum“ geprägt oder können in diesem Transformationsprozess Klang- und Zeichenraum separat gedacht bleiben?

Die Problematik der Übersetzung von einer gesprochenen Sprache in eine andere ist bekannt. In jedem Fall soll der semantische Gehalt gewahrt werden. In der Musik oder in der Klangsprache ist im Gegensatz dazu die Semantik keine eindeutige – d. h.: Die Übersetzung eines Zeichens in einen Klang kann zu unterschiedlichen Resultaten führen, ohne dass dabei der Gehalt im Klang noch der Gehalt im Zeichen darunter leidet: Klang- und Zeichenraum können demnach sehr wohl separat gedacht bleiben!

Nicht mehr die adäquate Abbildung des Klangs ist entscheidend, sondern die Kohärenz der Zeichen in Analogie zur Kohärenz der Klänge.

Der Widerstand ist aufgehoben.

Jeder kennt aus klassisch notierter Musik, wie sich durch Tempobezeichnungen wie „rit.“ oder „accel.“ Verhältnisse zeigen, die nicht im Notationsvokabular enthalten sind: Ein natürliches Langsamer-Werden lässt sich in einem metrisch geteilten System nur unzulänglich abbilden. Man versuchte diese Begrenztheit der Notation (diesen Widerstand) mit Worten („rit.“, „accel.“) – die ja nicht Teil des Zeichensystems sind – aus der Welt zu schaffen. Die gleiche Problematik führte später weg von der metrischen hin zur proportionalen Zeitdarstellung. So war eine Lösung gefunden, die im Rahmen der Notation, besser: im Rahmen des Zeichenvokabulars blieb.
In dieser Hinsicht birgt jede Form der Notation, deren Ziel es ist, das klangliche Resultat abzubilden Einschränkungen, Widerstände, Hürden, die durch Erweiterungen oder Innovationen überwunden werden können.
Verlässt man allerdings die Vorstellung, dass musikalische Notation ein klangliches oder ein bestimmtes Resultat abbilden soll, verschwinden einerseits alle übersetzungsbedingten Widerstände und emanzipiert sich andererseits die Vorstellung im Klangraum von der Vorstellung im Zeichenraum.
In diesem „Frei-Werden“ sehe ich auch die Möglichkeit für die Relevanz der Musik im Kontext der Kunst.
Denn alle standardisierten Notationssysteme, die sich primär der Reproduzierbarkeit von „Klang“ verschrieben haben, bedienen vorerst die kommerziellen Strukturen des Musikbetriebs.


Schließen möchte ich mit einem Zitat aus den „Cahiers“ von Paul Valéry:

Das Wichtige und das Schöne an der Geometrie ist, daß sie (aufgrund ihrer Reinheit) ein Denk­instrument ist – ein Bearbeitungsmodus – eine Art und Weise des Sehens und Weiterführens und nicht ein äußerer Gegenstand – Alles, was Operationen des Geistes klar zu unterscheiden und festzuhalten ermöglicht, ist geometrischer Natur – Und alle wahren geometrischen Definitionen sind Konstruktionen oder Operationen – Wir vermögen nichts darüber hinaus. Das bedeutsame Ergebnis dieser Herstellung reiner Instrumente oder Elemente ist die Unabhängigkeit der Entwicklungsregeln vom Thema – daher immense Erweiterungen – nicht absehbare Konsequenzen – Handlichkeit, Freiheit.

MICA-INTERVIEW

Christian Heindl im Gespräch mit Christoph Herndler
am 15. Oktober 2012


Heindl Die Frage nach Henne und Ei: Ist Ihr Interesse, musikalische Vorgänge grafisch darzustellen, im Zuge des Unterrichts bei Roman Haubenstock-Ramati erwacht oder gingen Sie zu ihm, weil Sie sich für diese Methode interessierten?

Herndler  Es war ausschließlich großes Glück, dass ich durch ein paar zufällige Ereignisse letzten Endes auf Roman Haubenstock-Ramati gestoßen bin, und kein methodischer Schritt. Solche Schritte an entscheidenden Wegkreuzungen sind immer mehr von Instinkt geleitet, als von Absicht. Der Instinkt lässt mich vorwärts schreiten und die Methode, die meist eine Analyse des Schritts bedeutet, festigt den Tritt. Dass bei Haubenstock als Lehrer das Augenmerk auch auf Fragestellungen der Notation gerichtet wurde, liegt auf der Hand – gleich ob jemand traditionell, konventionell oder unkonventionell, mit grafischen oder nicht grafischen Mitteln notierte. Was sich in mir damals festsetzte, ist das Wissen um die Abhängigkeit von Methode und Inhalt. Welche Konsequenzen man daraus zieht, ist natürlich eine andere Sache.

Wenn ich nun Ihre Frage nach dem Interesse an der grafischen Darstellung eines musikalischen Vorgangs auf das bloße Interesse der Darstellung – gleich ob grafisch oder nicht – reduziere, zeigen meine Arbeiten, dass hier keine musikalischen Vorgänge dargestellt werden, sondern die Vorgänge selbst erst mittels der Notationsgrafiken generiert werden. Die Notationen sind also keine Abbilder akustischer Phänomene. Das ist ein wesentlicher Unterschied zur „traditionellen“ Notation, hat aber noch immer nichts mit ihrem grafischen Erscheinungsbild zu tun. Wie man allgemein weiß, bedient sich ja auch die sogenannte traditionelle Notation grafischer Mittel.

Heindl Sind es bei dieser Art des Herangehens ausschließlich musikalische Vorgänge, die grafisch dargestellt werden oder handelt es sich letztlich um eine grafische Arbeit, die musikalisch interpretierbar ist?

Herndler Durch die grafische oder besser die geometrische Qualität meiner Zeichen wird ein Feld der Interpretation abgesteckt und allein dadurch Beliebigkeit ausgeschlossen. Interpretation verweist hier nicht auf Geschmack, sondern auf die spezifischen Qualitäten des verwendeten Materials unter dem Gesichtspunkt formgegebener Zusammenhänge. Realisiert sich die Form der Sonate erst durch eine „kompositorische“ (also von einem Komponisten unternommene) Interpretation, so zeigt sich in meinen Notationsgrafiken die Form als geometrisches Gebilde ganz unmittelbar. Die Notation IST die Form, entstanden aus der grafischen Analyse einer ihr zugrunde liegenden Idee.

Wer auch immer nun diese Zeichen interpretiert, konfrontiert sich in erster Linie mit der Form und nicht mit dem „Komponisten“, konfrontiert sich mit dem „Objekt“ und nicht mit dem „Subjekt“. Und gerade in der Musik, die immer wieder ihre tradierten Formen zu überwinden suchte, scheint mir das Festmachen der Kunst an der Person oder an allgemein gültigen und akzeptierten Formen als ein Anachronismus. Die Konvention oder der „formale Halt“ könnte meines Erachtens allein darin liegen, dass sich das System für jeden Zweck jeweils neu erfindet. Als Konsequenz dieses Denkens löst sich für mich der Anspruch „traditioneller Notation“ – nämlich „musikalische Vorgänge“ abzubilden – als Mittel „künstlerischer Äußerung“ völlig auf.

Heindl Eine herkömmlich notierte Partitur gilt – abgesehen vom ideellen und materiellen Wert des Manuskriptes nicht unbedingt als Kunstwerk. Darf man diesen Anspruch bei den „grafischen Partituren“ ableiten, sind also die der Musik zugrunde liegenden Grafiken eigenständige Kunstwerke?

Herndler  Ob Kunstwerk oder nicht, kann ich nicht beurteilen, aber sie sind insofern „eigenständig“, als die Notation bereits eine grafische Interpretation der ihr zugrunde liegenden Idee ist – ich hätte die Idee auch anders notieren können. Um diesen Gedanken auf die Spitze zu treiben, könnte das beim „Aufzeichnen“ der Notationsgrafik entstehende Geräusch sogar als eine musikalische Interpretation derselben wahrgenommen werden. Die Notationen sind hier nie nur Mittel zum Zweck.

Heindl Wie genau lässt sich das musikalische Ergebnis in der graphischen Partitur vorherbestimmen?

Herndler  Das „musikalische Ergebnis“ lässt sich präzise formulieren, das „klangliche Ergebnis“ allerdings liegt gar nicht im Interesse präziser Formulierung – im Gegenteil, es soll sich als Resultat präziser Interpretation gar nicht fassen lassen können; obgleich der Identitätsgehalt höchst unterschiedlicher klanglicher Interpretationen ein und derselben Partitur sehr groß sein kann. Auch das Wetter entwickelt sich aus ganz „bestimmten“ Voraussetzungen, dennoch ist es schwierig vorherzusagen.

Heindl Jede Aufführung eines Werkes wird mehr oder weniger anders klingen. Ist das das von Ihnen als Komponist gewünschte Ergebnis?

Herndler  Ein Qualitätsmerkmal jeder Musik liegt in ihrer Präsenz. Und da Präsenz nie losgelöst von ihrem Wahrnehmungsraum gedacht werden kann, stellt sich die Frage, wie weit sich die „Poren der Komposition“ öffnen lassen, um den zeitlich wie räumlich einzigartigen Moment, in dem sie passiert, in sich aufzunehmen und zu reflektieren. Demzufolge zeigt sich das Unwiederholbare der Musik, das im Wesen des Klangs gründende Verschwinden, in meinen Arbeiten auch in formaler Hinsicht: Das Gleiche zeigt sich immer anders. Diese Variabilität bildet sich bei meinen Arbeiten in der Notation ab, und nicht wie bei den meisten „musikalischen Grafiken“ in der Vorstellung des Interpreten – ein wesentlicher Unterschied, der durch voreiliges Schubladisieren „grafischer Partituren“ leicht übersehen wird.

Heindl Liegt in der Unvorhersehbarkeit, wie eine Aufführung klingen wird, ein besonderer Reiz oder bleibt auch ein unbefriedigendes Moment, weil man als Komponist nicht exakt bestimmen kann, wie das Werk klingen soll?

Herndler  Man weiß ja von keiner Aufführung, wie sie klingen wird – gleich, wie genau das klangliche Ergebnis bestimmt ist; und sogar elektronisch gespeicherte Information ist für Schwankungen im Netz anfällig. – Aber es ist in jedem Fall die Erwartungshaltung oder die Vorstellung, die unsere Wahrnehmung gravierend beeinflusst. Hat man eine Vorstellung vom Leben, so lehrt die Erfahrung, dass es anders kommen kann, als man denkt. Wenn ich also das Ergebnis nicht (und somit auch „nicht exakt“) bestimme, so wird eine Aufführung dann enttäuschen, wenn die formalen Gegebenheiten der Notationsgrafik inkonsequent ausgelegt werden; und auch wenn durch Inkonsequenz im Moment ein intensiver musikalischer Reiz entstehen könnte, so würde der geistige Reiz, als Reibung an der Idee und nicht als Reibung am Klang, auf der Strecke geblieben sein.

Weder das abgeschlossene „Werk“ noch der „exakt bestimmte“ Klang stehen im Fokus meiner Arbeit. Vielmehr versuche ich die Kontrolle dorthin zu verlagern und zu konzentrieren, wo diese das Individuum explizit in eine Position der Verantwortung rücken lässt.

Heindl Gibt es auch unangenehme Momente bzw. Erlebnisse, wenn man als Komponist nicht bei Proben anwesend sein kann und dann im Konzert hört, dass etwas ganz anders gespielt wird, als man es sich vorgestellt hat?

Herndler Ja.

Heindl Welchen Anteil spielen in Ihrem Schaffen traditionelle Notationsformen?

Herndler  Mein Notieren ist kein Bruch mit traditionellen Notationsformen, sondern denkt diese, von ihren Grenzen her, weiter. Jeder technologische Fortschritt wirft auch ein neues Licht auf die Systeme, die ihn bedingen. Wenn Tradition als etwas Lebendiges verstanden wird und nicht als etwas Museales – also Tradition, die den Übersetzungsakt mitdenkt und sich nicht museal abkapselt –, dann sieht man auch, wie es über Jahrhunderte in der Musik (und in der Kunst überhaupt) zu wiederkehrenden Fragestellungen immer wieder neue Antworten gegeben hat. Daher ist auch die Notation in der Musik in einem ständigen Fluss, durch den manches mitgerissen wird, anderes sich ablagert oder fremde Einflüsse wirksam werden. Dass der „Mainstream“ oft nur schwerfällig auf neue Strömungen reagieren kann, liegt in seiner Natur.

Heindl Sie haben 1997 das Ensemble EIS gegründet. Entstand dies primär aus der „Not“, also der praktischen Überlegung heraus, damit Ihre eigenen Werke authentisch in ihrem Sinn präsentieren zu können, oder ist EIS von Ihrem eigenen kompositorischen Schaffen autonom zu sehen?

Herndler  Das Trio EIS, ein Streichtrio aus Ivana Pristasova (Violine), Petra Ackermann (Viola) und Roland Schueler (Violoncello) ist autonom zu sehen, das Ensemble EIS hingegen ist immer in irgend einer Weise mit meiner Arbeit verbunden. Die Ensemblelandschaft hierzulande ist ja eine sehr durchmischte; auch im Ensemble EIS spielen Musiker und Musikerinnen mit, die auch in anderen Ensembles vertreten sind. Vermischt sind aber auch die Genres, die oftmals in der Ensemblearbeit zusammengeführt werden. Im Ensemble wirken nicht nur Künstlerinnen und Künstler aus der Sparte Musik, sondern auch aus Tanz, Film, bildender Kunst und Literatur mit; und genau darin spiegelt sich ja auch der intermediale und spartenübergreifende Aspekt meiner Notationsgrafiken.

Da jede Institution auch ein Spiegel ihrer Strukturen ist, schien es mir angebrachter, ein „eigenes“ Ensemble zu gründen, als mich auf Institutionen einlassen zu müssen, wo ein Großteil der Energie in Überzeugungsarbeit fließen muss, bevor es dann erst nur zu unbefriedigenden Resultaten kommt. Das hat weniger mit der Fähigkeit und Offenheit einzelner Menschen zu tun, als mit gruppendynamischen Effekten. Wenn ich dann doch mit anderen Ensembles arbeite, ist es immer gut, wenn einer oder zwei der Gruppe mit meinen Arbeiten schon Erfahrung haben. Sie können einer Gruppe die Sicherheit geben, die ansonsten durch die Autorität des Dirigenten oder der herkömmlichen Partitur gewährleistet ist. Denn im Gegensatz zu Partituren, die das klangliche Ergebnis zeigen, auf das schon in den ersten Minuten der Probe verwiesen werden kann – auch wenn man noch zu keinem solchen tatsächlich gefunden hat –, gibt es bei meinen Notationsgrafiken keine visuelle Referenz, die den Klang belegt; sie sind vielmehr ein visueller Beleg dafür, wie ein klangliches Geschehen durch ihm zugrunde liegende Prinzipien und nicht ihm übergeordnete Kontrollinstanzen selbständig wachsen kann.

Ein entscheidendes Merkmal von Ensemble EIS liegt darin, dass keiner der Teilnehmenden austauschbar ist. Bricht sich zum Beispiel „die Klarinette“ kurz vor einer Aufführung das Bein, wird die Aufführung entweder ohne sie stattfinden können oder es fügt sich eine andere Klarinette zur Gruppe. In jedem Fall aber hat eine instrumentale oder personelle Änderung unmittelbare Konsequenzen auf die klangliche Form, ohne dabei ihre Identität oder Vollständigkeit zu verlieren. Im Gegensatz dazu würde eine „Symphonie mit dem Paukenschlag“ ohne Pauke oder irgendein neueres Werk für chromatisch gestimmte Steeldrums in der fünften Oktav ohne fünfte Oktav nicht funktionieren.

Das Ensemble EIS ist somit ein Gegenentwurf zur klassischen Institution, deren Mitglieder austauschbar sind, OHNE dass sich dabei die Form der Institution zu ändern hätte. Die Stabilität von EIS gründet auf der Flexibilität der Formen, die es verkörpert. EIS ist keine Institution, sondern ein Aggregatzustand.

Heindl Sie haben auch Elektroakustik studiert. Wie verknüpfen sich in Ihrer Arbeit dieser Aspekt und das grafische Komponieren?

Herndler  Auch in der Elektroakustik geht es für mich weniger darum, was aus dem Lautsprecher kommt, sondern um die Frage, wie es dort hingelangt. In diesem Sinn habe ich mich im Zuge dieser Auseinandersetzung und vor allem während der Zeit am CCRMA in Stanford mit Programmierung auseinandergesetzt. Nun unterscheiden sich zwar die Programmiersprachen – je nachdem welche „Maschine“ angesprochen werden soll –, aber ihnen allen liegt das gleiche Prinzip zugrunde: nämlich komplexe Vorgänge durch einfache logische Verknüpfungen zu beschreiben und dadurch zu verallgemeinern, zu abstrahieren.

Dieses Prinzip spielt auch in meiner „kompositorischen“ Arbeit eine große Rolle. Denn die Notationsgrafiken sind im Grunde „Programme“, also komprimierte Darstellungen meist in der Zeit angesiedelter komplexer Prozesse. Da mich als Komponist immer auch der „menschliche Faktor“, das Fehlerhafte, das Unvollkommene, das Unbegreifliche, das Spontane, das Unordentliche etc. interessieren, richten sich diese Codes in der Form geometrischer Zeichen nicht an Maschinen, sondern an Menschen, die die Zeichen im Spiel decodieren müssen. Denn erst durch die Reibung des hermetisch abgeschlossenen, in sich stimmigen, fehlerfreien Programms am spielenden Menschen wird das Unvorhersehbare frei gesetzt. So wie sich beim Destilliervorgang aus dem Vergorenen das „Klare“ gewinnen lässt, versuche ich mittels meiner Notationsgrafiken aus dem Klaren eine Gärung in Gang zu setzen. Kurz: Man muss den Schnaps auch trinken!

Heindl Als Laie auf diesem Gebiet muss ich doch noch die Frage stellen, ob es überhaupt korrekt ist, von „grafischem Komponieren“ zu sprechen?

Herndler  Was ist überhaupt zu erwarten, wenn wir ein neues Begriffspaar wie „grafisch Komponieren“ einführen? Schon allein der Begriff „Komponieren“ beschreibt meinen Arbeitsprozess sehr unzureichend wenn nicht sogar falsch. Es sind oft lediglich kombinatorische Prinzipien, die zu einer Notationsgrafik führen – also würde „kombinieren“ einen Teilaspekt meiner Arbeit sicher besser treffen. Andererseits hat sich der „Komponist“ immer als Interpret mehr oder weniger akzeptierter oder neuerdings „selbst erfundener“ Formen erwiesen; also wäre er besser mit „Interpret“ beschrieben. Aber auch wenn der Begriff „komponieren“ auf mein Arbeiten bezogen unzutreffend scheint, so wird mein musikalisches Denken sehr stark von einem grafischen Denken mitbestimmt.

Das Grafische oder besser Geometrische meiner Arbeit ist eine Methode, um einerseits komplexe Zusammenhänge einfach auszudrücken, sie zu visualisieren, und andererseits eine Methode, um an Punkte zu gelangen, die jenseits meiner Vorstellung liegen und somit auch jenseits meines geschmacklichen Urteils. Sich vorzustellen, wie ein einziges Dreieck, gleichzeitig aus vier Richtungen betrachtet, vier verschiedene Aktionen bedeuten kann, ist noch relativ einfach. Einfach ist es aber auch, den Komplexitätsgrad einer Grafik so zu steigern, dass sich eine solche Vorstellung der Vorstellung entzieht. Dennoch weist jede Grafik, die auf einen Blick visuell erfasst werden kann, auf den Willen, den musikalischen Gedanken als Ganzes zu zeigen – ihn von seinem Ende her zu denken; zu zeigen, wie sich „die Musik“ in unserem Denken ausbreiten kann, ohne an Anfang oder Ende gebunden zu sein. Die oft an Aufführungen geknüpfte und von Kritikern beantwortete Frage „Wie war es?“ spielt so gesehen hier keine Rolle.

Positionen

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POSITIONEN, Beiträge zur neuen Musik, Heft 72, 2007


FLORIAN NEUNER
Christoph Herndler: Intermediale Partituren

Christoph Herndlers Partituren wirken auf den ersten Blick wie geometrisch-abstrakte Kunst. Die Zeichen, derer er sich in seinen Notationen bedient, sind aber kein Resultat des Bestrebens, Klangvorstellungen möglichst präzise zu notieren, sie wollen vielmehr neue Offenheiten schaffen. Herndler erfindet keine neuen Zeichen, weil ihm die konventionelle Notenschrift zu unpräzise erschiene, weil er neue Chiffren für das benötigen würde, was er in seinen Partituren fixieren möchte. Er will in seinen Notationen Raum schaffen für Unbestimmbares. Herndler erweitert den individuellen Handlungsspielraum enorm, versucht aber mit seinen dialektisch zwischen Freiheit und Determination agierenden Versuchsanordnungen auch die Clichés zu umschiffen, die freies Improvisieren anscheinend zwangsläufig erntet.
Festgelegt ist zunächst – nichts. Keine Besetzung, nicht einmal, daß auf der Grundlage einer Notation musiziert werden muß, ist zwingend. Herndlers intermediale Partituren könnten z.B. auch filmisch umgesetzt werden, könnten als Ausgangspunkt einer Choreographie dienen. Sobald der Interpret aber nun Entscheidungen trifft, schränkt er seine Freiheit auch ein. Die Entscheidungen haben Folgen, wenn er Herndlers abstrakte Zeichen mit Bedeutung belegt, dann muß er im weiteren Verlauf seiner Realisierung einer Partitur auch dabei bleiben. Mit Beliebigkeit hat das wenig zu tun.

Christoph Herndler spricht gerne davon, wie wichtig das Weglassen für ihn sei. So findet er zur präzisen Einfachheit seiner graphischen Notationen. In der Entwicklung des Haubenstock-Ramati-Schülers bedeutete die Ende der achtziger Jahre entstandene Arbeit der gebrochenen flügel anderer teil einen entscheidenden Wendepunkt: erste intermediale Partitur.

Die Partituren des im oberösterreichischen Gaspoltshofen lebenden Komponisten kommen meist mit einem einzigen Blatt aus und sind so angelegt, daß sich durch Drehen dieses Blattes vier verschiedene Lesarten ergeben. So besteht vom Festen, das Weiche, eine Partitur von 2006, aus fünf mal fünf Quadraten, in der Mitte der Graphik ist ein Quadrat ausgespart, also aus insgesamt 24 Zeichen. In den Quadraten sind Vierecke angeordnet, deren Ecken sich auf den Seiten der Quadrate befinden. »Die Graphik erfaßt mit ihren 24 Zeichen und den dazugehörigen Drehungen die Gesamtheit aller möglichen Varianten, ein Viereck an den jeweils drei, beim Vierteln einer Seite entstehenden Teilungspunkten, aufzuspannen«, schreibt Herndler im Begleittext zu seiner Partitur. »Jede Ecke eines im Quadrat liegenden Vierecks teilt somit eine Seite des Quadrats in zwei gleiche oder zwei ungleiche Teile.« Den unterschiedlichen Längen von Teilstrecken an den Seiten der Quadrate ordnet der Komponist nun die Dauern ›lang‹, ›mittel‹ und ›kurz‹ zu – erster Schritt auf dem Weg zu einer musikalischen Interpretation dieser Graphik. In Begleittexten zu seinen Partituren versucht Christoph Herndler den Interpreten Wege zu weisen, macht dann etwa Vorschläge, wie vom Festen, das Weiche für zwei oder mehrere Klaviere gelesen werden kann. Der Kompositionsprozeß wird also in die Realisation dieser Notationen verlagert. Herndler erarbeitet mit Musikern solche Aufführungen, häufig mehrere seiner Partituren kombinierend, führt dabei sozusagen Regie, wünscht sich aber auch, daß mit seinen Partituren ohne sein Zutun gearbeitet wird.

Nach Studien in den USA kehrte Herndler 1994 nach Österreich zurück und begann Musiker um sich zu scharen, die bereit waren, sich auf dieses Arbeiten einzulassen. Das Ensemble EIS, das sich hauptsächlich aus Musikern der Wiener Neuen-Musik-Szene zusammensetzt, erarbeitet in wechselnden Formationen mit dem Komponisten Realisationen, Aufnahmen dokumentieren Zwischenresultate und tragen Titel wie weimar, 03.02.06. Überhaupt ist Herndler der Auffassung, daß die Partitur im Zeitalter der digitalen Reproduzierbarkeit davon entlastet sei, eine möglichst genaue Fixierung von Klangvorstellungen leisten zu müssen und wieder neu gedacht und definiert werden könne.

Ich sage nicht, daß die Partitur davon entlastet sei, präzise Handlungsanweisungen für den Interpreten bereithalten zu müssen, sondern daß sie davon entlastet wird, ein mehr oder weniger präzises Abbild des klingenden Resultats zu fixieren. Denn hierfür gibt es ja viel effizientere Werkzeuge (Aufnahmegeräte etc.), eben Werk-Zeugen. Meine Arbeit konzentriert sich auf die notationstechnischen Konsequenzen, die sich aus dem Bestreben ergeben, nicht ein bestimmtes, sondern ein mögliches Resultat notieren zu wollen.

Beim Versuch klangliche Ereignisse zu notieren, stößt man im Laufe der Musikgeschichte u. a. immer wieder auf zwei verschiedene Arten dies zu tun: Zum einen sind da Griffschriften oder Tabulaturen, zum anderen die Tonhöhe und Tondauer fixierenden Notenschriften. Der wesentliche Unterschied dieser beiden Formen liegt nun nicht nur darin, daß sich Tabulaturen meistens auf bestimmte Instrumente beziehen und die Notenschrift im wesentlichen eine vom Instrument unabhängige Form der Notation darstellt, sondern auch darin, daß sich die Griffschriften auf die Klangerzeugung und die Notenschrift auf den resultierenden Klang beziehen.

Die Tabulatur zeigt mir durch Zeichen, was zu tun ist, damit etwas passiert. Und die Notenschrift zeigt mir durch Zeichen was passieren soll, damit ich es tun kann. Die Notenschrift wird also dort an ihre Grenzen stoßen, wo sich das, was passiert, nicht mehr vorhersagen oder vorstellen läßt. Die Tabulatur hingegen birgt eine Möglichkeit, dieses Unbestimmte zu notieren, da sie ja nicht beschreibt, was passiert sondern, was zu tun ist, damit es passiert. Sobald also die Abbildung eines bestimmten, vorgestellten Resultats nicht mehr von Bedeutung ist, sondern vielmehr die Abstraktion dessen, kann jene »Notenschrift« oder Notation, die den (bestimmten) Klang beschreibt, zum Hindernis werden.


Dem versucht Christoph Herndler mit der »anderen« Präzision seiner insofern Tabulaturen vergleichbaren Notationen zu begegnen. Freilich, anders als Tabulaturen liegt Herndlers Notationen kein eindeutig dechiffrierbarer Code zugrunde. An dieser Stelle will der Komponist sich zurücknehmen, will nur der Ermöglicher dessen sein, was die Partitur weder ausdrücken kann, noch soll, und zielt auf eine Trennung von Form und Material.

Klänge zu notieren, die sich nicht in der Vorstellung (des Komponisten), sondern erst im Spiel bestimmen, verlangt nach andern Methoden als jenen, die uns die »Notenschrift« im weitesten Sinne bietet. Dabei entscheidend für mich ist aber vor allem die Präzision, mit der sich diese Unbestimmtheit formulieren und notieren läßt. So entsteht in vielen meiner Partituren durch die Trennung von Form und Material eine Notation der Möglichkeiten.

Im Gegensatz dazu sind in der »Notenschrift« Material und Form verbunden. Die Form läßt sich nur analysieren. Doch ist es gerade die Form(el), die nicht das Konkrete, sondern die Möglichkeit fixiert. Deswegen die Trennung: Der Musiker kommt bei meinen Partituren nur zu einem Resultat, indem er musizierend die Form sieht. (Eine Fuge von Bach läßt sich auch spielen, ohne ihre Form zu sehen – das gleiche gilt für den Großteil des zeitgenössischen Repertoires).


Bei Herndler hat jeder Musiker die gesamte Partiturgraphik auf einem Blatt und einen Blick vor sich – und damit die Form. Es gibt keine Stimmen, die man herausschreiben könnte, die ordnende Hand eines Dirigenten entfällt, selbst bei Aufführungen, die Herndler mit größeren Ensembles wie den Budapester Streichersolisten erarbeitet hat. Diese Abschaffung der Partitur hat wie bei Cage eine Eliminierung der eingespielten Hierarchien zur Folge und führt zu einem anderen Arbeiten, das die Stärken des freien Improvisierens für dieses Musizieren retten will, ohne die Schwächen und Clichés in Kauf nehmen zu müssen. Den symbolpolitischen Implikationen dieser Art des Arbeitens ist Herndler sich bewußt, ohne sie sonderlich zu betonen.

Musikalische Erscheinungsformen eignen sich immer sehr gut, um mit ihnen politische Vergleiche anzustellen: die Polyphonie einer Bachschen Fuge, das hierarchische System eines klassischen Orchesters, die Gleichberechtigung des musikalischen Materials in der Zwölftonmusik, die Gleichstellung von Partitur und Stimme oder überhaupt deren Abschaffung etc. Tauche ich in die Mikrostruktur der Musik, so wirken auch auf dieser Ebene die Formen in ähnlich symbolischer Weise: Wenn ich immer wieder höre, wie Trommel und Trompete gleichzeitig wegstarten oder das gesamte Geschehen auf einen Schlag stoppt, so spricht daraus nicht zuletzt der ihr übergeordnete Wille – eine Macht, die synchronisiert. Die Art und Weise, wie das musikalische Ergebnis erreicht wird, die »Stimme«, die dem Musiker sagt: »Tu dieses, tu jenes«, diese »Stimme« wird auch vom Hörer wahrgenommen, sei es bewußt oder unbewußt. In jedem Fall sieht er die vom Dirigenten ausgestrahlte Macht, wenn er den Taktstock hebt und es »bumm« macht – das fasziniert.

Wenn ich aber aufgrund der Notation nur mögliche Resultate erwarten kann, ist die Macht auf einen Schlag dahin – zumindest hat sie sich verlagert. Was bedeutet es nun aber, ein mögliches Resultat zu notieren? Verteile ich auf einem weißen Papier Punkte und Striche, so kann man diese in kurze und mehr oder weniger lange Töne übersetzen. Wenn sich nun die Tondauern aus den relativen Längen und Abständen der einzelnen Zeichen ergeben und kein absolutes Maß eingefordert wird, werde ich beim mehrmaligen Spiel immer wieder andere Tonfolgen erhalten. Ich könnte also sagen: Hier werden verschiedene Möglichkeiten festgehalten. Doch meines Erachtens entstehen hier nicht unterschiedliche, mögliche Resultate, weil Möglichkeiten notiert sind, sondern weil das zur Verfügung stehende Instrumentarium zu grob und unsere Fähigkeit, visuelle Längen in zeitliche Dauern zu übersetzen, nicht genau genug ist, um die Punkte und Striche mit ganz eindeutigen Positionen und Längen in entsprechend eindeutige Tonhöhen und Dauern überzuführen. Das heißt, die proportionale Notation befreit zwar die Notation aus jenem Raster, der die Zeit in Einheiten unterteilt (4/4, 3/4, 2/4, 3/8 etc.) aber fixiert dennoch nicht mehrere Möglichkeiten, sondern bloß eine einzige – die Striche und Punkte könnten ja auch anders am Papier verteilt sein –, die aber immerhin auf Grund der Ungenauigkeit unserer Übersetzungsfähigkeiten (Strichlänge nach Tondauer) zu verschiedenen Resultaten führt.

Die Notationsformen, an denen ich nun arbeite, versuchen am Papier das festzuhalten, was mittels Computer am Bildschirm mittlerweile zu einer Alltäglichkeit geworden ist. Um beim Beispiel der Punkte und Striche zu bleiben: Es wäre sehr einfach, ein Programm zu schreiben, das die Punkte und Striche am Bildschirm jedes Mal neu verteilt – also immer wieder andere Möglichkeiten fixiert. Die eigentliche Partitur (Notation) wäre aber hier nicht etwa der Ausdruck dieser verschiedenen Bildschirmdarstellungen, sondern das zugrundeliegende Programm, welches die Varianten generiert. Dieses Programm ist eine sehr präzise Darstellung verschiedener Möglichkeiten – anders würde es nämlich gar nicht funktionieren. Und so sind viele meiner Notationen eher mit einem solchen Programm zu vergleichen, dessen Betriebssystem allerdings nicht der Computer sondern der Mensch ist. Anders gesagt: Ein schwarzer Fleck am Papier mag zwar zu verschiedenen musikalischen Ereignissen anregen, er bleibt aber immer noch ein ganz konkreter Fleck.


Form und Material zu trennen, das bedeutet für Herndler, daß er sich als Komponist aus dem heraushält, was er Geschmacksentscheidungen nennt, also das konkrete Füllen seiner abstrakten Formen mit Klängen. Zwar kommen seine persönlichen Geschmacksentscheidungen wieder ins Spiel, wenn er selbst an Realisationen seiner Partituren arbeitet, aber die Partituren selbst wahren eine maximale Offenheit und treffen keinerlei Vorentscheidung für ein bestimmtes klangliches Material.

Ähnlich wie bei vielen Komponisten werden in meiner Arbeit gewisse kompositorisch-ästhetische Entscheidungen ausgelagert. Geschieht dies bei Cage z.B. durch die Heranziehung des I Ging oder des Zufalls, so ist es bei mir das Hinreduzieren auf graphische Formen, deren Größe und Aussehen sich meist durch Kombinatorik bestimmen. Der Zufall steht sozusagen noch außerhalb der Komposition und kommt erst wieder bei der Wahl des Materials und beim Musizieren selbst ins Spiel.

Wo und wie nun diese Materialwahl oder Klangfindung stattfindet, ob während des Komponierens oder bei den Probenphasen ist grundsätzlich egal, entscheidend ist, daß sie bei mir von der Form getrennt ist, d.h.: austauschbar, nicht fixiert, variabel. Denn Material bedeutet schon Interpretation, und Interpretation bedeutet: Es könnte auch anders sein. Daraus ergibt sich für mich die Suche nach Formen, die sich mehr oder weniger zwingend so ergeben, daß sie eben nicht anders sein können. Und so komme ich zu meinen graphischen Formen, die, sobald sie musikalisch interpretiert werden, zu musikalischen Graphiken werden.

Auch wenn diese Interpretation oft durch mich selbst (als Komponist) stattfindet, so bleibt doch die Trennung zwischen Interpretation und Form, zwischen Subjekt und Objekt immer klar erhalten, transparent und sichtbar. Indem ich nun das Subjektive vom Objektiven trenne, schaffe ich für mich und andere eine Zugangsmöglichkeit zur Musik jenseits des Ästhetischen und Stilistischen. Da das Ästhetische wie Stilistische immer auch an den musikalischen Apparat, an die uns zur Verfügung stehenden Instrumente gebunden ist und jedem Instrumentarium früher oder später etwas Anachronistisches anhaftet, bedeutet für mich diese formale Arbeit, die Suche nach einer Lösung, um mit dieser Problematik des Anachronistischen umzugehen. War es bei Cage noch möglich, das Klavier zu präparieren, um es aus dem Kontext des 18. Jahrhunderts zu reißen und in ein Jetzt hereinzuholen, so stellen für mich augenblicklich alle Arten, das »alte« Instrumentarium entgegen seiner ursprünglichen Architektur zu verwenden, nur Teil- und Notlösungen dar. Aber es überhaupt nicht zu verwenden, würde bedeuten, das gesamte Potential als Produkt eines dem alten Instrumentarium verbundenen Erziehungssystems und somit eines Teils unserer Gesellschaft, auszuschlagen.


Dieses Potential aber will Herndler produktiv machen. Er möchte in der Arbeit, die seine Partituren ermöglichen, nicht nur symbolpolitisch das konventionalisierte hierarchische Reproduktionssystem durchbrechen, sondern zu einem anderen Musizieren mit größeren Freiheitsgraden vorstoßen, in dem der »Interpret« eine andere, größere Rolle mit mehr Verantwortung spielen kann. Ohnehin verschwimmen die Grenzen zwischen Komponist und Interpret.

Den Raum für »Interpreten« zu vergrößern, heißt den Raum für Interpretation zu öffnen – und damit ist eben nicht die tausendste Einspielung einer Beethoven Sonate stellvertretend für den Interpretationswahn unserer Gesellschaft gemeint. Um den Raum für Interpretation zu öffnen, muß ich ihn kennen und abstecken, und das geschieht, wie oben schon erwähnt, in der Trennung von Material und Form. Das bedeutet auch, offen zu zeigen, wo der Komponist zum Interpreten wird. Das gewohnte Bild des Komponisten kommt weniger aus dem Erfinden von Formen, sondern dem Interpretieren von Formen. Durch die Akzeptanz und die Einigung auf ein paar wenige allen zur Verfügung stehende Formen als Vehikel der Interpretation durch den Komponisten, war die Trennung zwischen Form und Material lange Zeit klar. In dem Maß, in dem sich das Individuelle etablierte und das Vehikel einer allgemein akzeptierten Form abgelegt wurde, stattdessen die Erfindung der Form immer mehr in das Zentrum kompositorischer Tätigkeit rückte, in dem Maß verschwimmt die Trennung zwischen Form und Interpretation (= Material).

Ist die Form sichtbar, so weiß man auch um die Möglichkeit verschiedener Ansichten (= Interpretationen). Verschmilzt sie aber unsichtbar mit der Interpretation (= Material), wird die eine Ansicht zum »Maß der Dinge«, und daraus entsteht dann die hierarchische Ordnung zwischen Komponist und Interpret: der Interpret als verlängerter Arm des Komponisten. Er tut, was ihm gesagt wird, weiß aber nicht, warum, denn er sieht die Form nicht, er kennt nicht den Grund.

Durch dieses Sichtbarmachen der Form zeige ich nicht nur die Relativität meines Handelns und räume somit dem Anderen eine andere (eigene) Ansicht ein, sondern stelle die Sache außerhalb meiner persönlichen Interessen. Der Interpret ist nicht mehr verlängerter Arm des Komponisten, denn der Interpret sieht den Komponisten selbst als Interpreten. Die den Komponisten vom Interpreten unterscheidenden Fähigkeiten bleiben so nicht in ihrem hierarchischen Machtverhältnis verankert – denn alle haben Einblick –, sondern sie werden zu zwei Ankerpunkten, um die sich die Sache dreht – eine modellhafte politische Konsequenz, die letzten Endes aus Transparenz entsteht.


Herndlers befreiter, gleichsam komponierender Interpret, benötigt, davon ist er überzeugt, als Widerpart und Reibungsfläche möglichst klare, sozusagen objektive Formen – die sich nach einem einmal aufgestellten Kalkül mehr oder weniger selbst generierenden geometrisch-abstrakten Formen.

Wenn die Musik dann klingt, spürt man ohnehin, wie sich das Subjektive überall wo es nur kann, breit macht, auch wenn die »Komposition« noch so sehr von objektiven Kriterien geleitet worden ist. Musik muß sich auch jenseits subjektiver Entscheidungen und Eingriffe bewegen können. Man muß sie fließen lassen – und nicht nur als Interpret, sondern vor allem als Komponist. Ich will bei einer Komposition nicht den Komponisten sehen, sondern die Musik hören.

Beim Komponieren, wenn man das Erstellen seiner Graphiken so nennen mag, spielen Klangvorstellungen überhaupt keine Rolle. Sie treten – als Füllung der Form – erst später als eine Sache des Interpreten hinzu. Herndler stellt sich somit gegen eine ganze musikalische Tradition, die sich an Klangvorstellungen entzündet und diese möglichst genau zu notieren sucht.

Was mich zu einer kompositorischen Idee führt, kann sehr unterschiedlich sein, oft sind es natürlich auch konkrete Klänge, die mir einfach gefallen. Das Gefallen ist jedoch nur der Katalysator, die Zündung, um am Arbeiten zu bleiben, nie aber der Grund, etwas aufzuschreiben. Erst am Weg dieses kompositorischen Prozesses, der mich vom Konkreten zum Abstrakten führt, stellt sich heraus, ob die Idee etwas taugt oder nicht. Das, was oft sogar mit einem Klang beginnt, »endet« mit einer Graphik, die nicht unbedingt wieder zu diesem konkreten Klang führen muß, sondern vielleicht zu einem Aspekt dieses Klanges, der sich nun in der Interpretation der Graphik auch genausogut als bewegtes Bild oder Tanz zeigen könnte. Der Grad der Abstraktion kann demnach auch so groß sein, daß durch ihn das ursprüngliche Medium verlassen werden kann, ähnlich wie in den digitalen Technologien.

Heißt das nun, daß Aufnahmen bei Christoph Herndler wichtiger sind als bei anderen Komponisten, weil sie nicht bloß eine mehr oder weniger perfekte Umsetzung des Partiturtextes (die man wieder und wieder neu versuchen kann) darstellen, sondern eben Nicht-Wiederholbares fixieren? Sind diese Aufnahmen die eigentlichen Resultate seiner musikalischen Arbeit, weil erst in der Realisation der Partituren Komponieren im herkömmlichen Sinne stattfindet? Müßte eine Werkausgabe folglich in einer CD-Edition bestehen?

Aufnahmen sind mir durchaus wichtig, da nur sie auch etwas vom »Unwiederholbaren der Partituren« einfangen können. Sie stellen demnach auch die Resultate meiner Arbeit dar. Grundanliegen meiner Arbeit sind nun aber nicht diese Ergebnisse, sondern mein Ziel ist es, durch die Partituren selbst einen Beitrag zu leisten, um das Wesen der Musik, nämlich ihre Vergänglichkeit, lebendig zu halten. Das ist ein Tribut an die Spontaneität, ein Umgehen mit dem Unvorhersehbaren, ein Bewahren durch Loslassen und nicht durch museales Archivieren.

Von mir geleitete Interpretationen in Form einer CD-Edition würden nur einen Vorschlag vieler möglicher Varianten darstellen, denn mir geht es darum, an die Eigenverantwortung des Interpreten zu appellieren. Bei jeder Form der Notation müssen der freie der fixierte Raum abgewogen werden, denn die daraus entstehenden Grenzen bilden den Spielraum, der im Verantwortungsbereich des Interpreten und nicht des Komponisten liegt.

Da die verwendeten Materialien immer auch einer Mode unterliegen, will ich nicht sie zum Hauptträger meiner Ideen machen, denn je schneller sich das Material verbraucht, umso weniger Zeit bleibt dem Tiefgang. Eine Form als etwas abstrakt und objektiv verstandenes, vermag es jedoch, Materialien aufzusaugen und wieder abzugeben, ohne sich dabei selbst abzunutzen. Meine Partituren bedienen sich der Moden, aber sollen auch jenseits eines Zeitgeschmacks oder unter anderen modischen Voraussetzungen ihre Funktion beibehalten können. Und das kann, wenn überhaupt, nur an jener Grenze funktionieren, wo Musik noch nicht Musik, Klang noch nicht unbedingt Klang ist.

Inhalt

[ Texte ]

BESTIMMTE UNBESTIMMTHEIT Der unfassbare Klang - Notationskonzepte heute
ÜBERGANG UND SCHNITT Musik abseits ihrer Klanglichkeit
WARUM ÜBER NOTATION REDEN? Notation: Imagination und Übersetzung
MICA INTERVIEW Christian Heindl
SPEICHERN ... VERGESSEN Florian Neuner